Kampfkunst

Nur mit Fleiß macht der Schüler Lernfortschritte. Die Kunst des Kampfes ist weder käuflich noch ohne eigenen Einsatz zu erwerben!

Da der Begriff „Kampfkunst“ vielfältig verwendet wird – vom Formenlaufen bis hin zum Wettkampf – bedarf es zunächst einer Begriffsklärung. Die Ausübung von Kampfkunst wird in Europa meist mit rein körperlichen Aspekten assoziiert, auch wenn mit Begriffen wie Geist und Seele geworben wird. Anders sieht es in Asien aus: In Asien hat die Kampfkunst einen höheren Stellenwert und es existiert eine enge Bindung zwischen Glauben, Philosophie und Esoterik. Wer kennt nicht die buddhistischen Shaolin-Mönche, die weltweit ihre Kampfkünste präsentieren? Wegen der erhöhten Nachfrage nach seelischer und geistiger Befriedigung suchen auch in Europa Kampfkünstler vermehrt nach der tieferen Dimension der Kampfkünste. In dem Buch „Kampfkunst als Lebensweg“ von Uschi Schlosser-Nathusius und Florian Markowetz wird sehr gut beschrieben, dass Kampfkunst mehr ist als Selbstverteidigung oder Wettkampfsport. Derselbe Ansatz war für mich Anlass, mich als Mental Coach ausbilden zu lassen. Während der Ausbildung und vor allem danach erkannte ich die Zusammenhänge. Ich versuchte hinter die Aussage „Kampfkunst ist mehr!“ zu gelangen. Was ist der Kern von Kampfkunst? Was ist das Wesen der Kampfkunst und was bedeutet dieses „Mehr“?

Kämpfen ist eine grundlegende Eigenschaft des Menschen. Man kann auch sagen: Der Mensch ist zum Kämpfen geboren. Genauso – „Zum Kämpfen geboren“ – lautet beispielsweise ein Teil der vierteiligen BBC-Reihe „Das Tier im Menschen“. Der Mensch kämpft vom ersten Tag seiner Erzeugung bis zum Tod mit dem und um das Leben. Erst im Tod findet der Mensch seinen Frieden. Grabinschriften wie „R.I.P.“ oder „Ruhe in Frieden“ und Redewendungen wie „Jetzt hat er/sie seinen Frieden gefunden“ sind Ausweis dieser Denkweise.

Solange der Mensch lebt, kämpft er um die Befriedigung seiner Bedürfnisse. Hierzu gehören auch Glück, Harmonie oder Frieden. Dem Menschen ist dabei aber nicht bewusst, dass Kampf an sich weder Harmonie noch Frieden bedeuten kann. Solange er kämpft, findet der Mensch weder Harmonie noch Frieden. Der Grund für die Kämpfe liegt vor allem in der inneren Uneinigkeit oder auch in der fehlenden Ordnung. Betrachtet man den Kampf für sich, ist der Kampf die Endstufe eines Konflikts. Demnach sind es die Konflikte, die inneren wie auch die äußeren, mit denen der Mensch in seinem Leben primär konfrontiert wird. Die inneren Konflikte versetzen den Menschen in Krisen beziehungsweise verursachen Probleme. Beide sind die Gegenspieler der Selbstwirksamkeit. Krisen beziehungsweise Probleme empfindet der Mensch, sobald Ereignisse eintreten, für die er keine schnellen Lösungen zur Hand hat, und bei denen er der Meinung ist, eine Situation nicht selbst meistern zu können. Hier besteht eine Verbindung zwischen Religion, Philosophie, Esoterik, buddhistischer Lehre und der Lehre der Kampfkunst. Alle Systeme versuchen, dem Menschen die wahrgenommen Krisen oder Probleme zu erklären und dabei zu helfen, diese zu bewältigen.

Religionen und Esoterik gehen einen vergleichbaren Weg. In der Religion holt man sich Beistand und Rat von göttlicher Seite, während man sich in der Esoterik zum Beispiel Karten legen oder anderweitig beraten lässt. Von Philosophen erhält man Rat durch ethische Darlegungen oder Aphorismen. Über die Wissenschaft, in diesem Fall vor allem die Sozialpsychologie, wird versucht, den Menschen eine Erklärung für Krisen und Probleme zu geben. Der Buddhismus wiederum beschreitet noch einen anderen Weg: Der Buddhismus lehrt, die Lösung in sich selbst zu suchen.

Ein Leben, über das man nicht nachdenkt, ist nicht lebenswert.
Sokrates

Ein dem Buddhismus vergleichbaren Ansatz verfolgt auch die Kampfkunst. Die Kampfkunst ist die Lehre über den Kampf. Da aber der Kampf nur die Endphase eines Konfliktes ist, muss sich die eigentliche Lehre der Kampfkunst auf den Konflikt selbst beziehen. Als Schlussfolgerung ist der Kern der Kampfkunst demnach das Wissen um den Konflikt und das Wissen um die eigene Konfliktfähigkeit.

Das Entscheidende besteht darin, sich die
vollständige Wissenschaft der Kampfkunst zu eigen
zu machen, um über zahlreiche Wege zum Sieg zu gelangen.
Miyamoto Musashi

Die Wissenschaft der Kampfkunst, das Wissen um den Konflikt, innere wie äußere Konflikte, sowie die eigene Konfliktfähigkeit sind Teil der Sozialpsychologie und werden durch diese erklärt: zum Beispiel das menschliche Verhalten im Verhältnis zu den individuellen Bedürfnissen. Dieses Verhalten wird nach außen über die Kommunikation sichtbar. Die menschliche Kommunikation hat aber einen Haken, sie ist nicht eindeutig.

Das Erkennen von Fähigkeiten und Absichten ist das Wesentliche und das höchste Gebot. Zumal dies im Geheimen und verschlüsselt übermittelt wird.
Yagyū Munenori

Es sind die menschliche Manipulierbarkeit und Manipulationsfähigkeit, die das menschliche Handeln und damit auch die Kommunikation verzerren und undurchsichtig machen. Menschen manipulieren Mitmenschen und werden von ihnen manipuliert.

In allen Belangen der Wissenschaft der Kampfkünste gilt es zu erlernen, wie du es vermeidest, durch andere übervorteilt zu werden, wie du dir selbst hilfst und wie du deine Ehre behauptest.
Miyamoto Musashi

Beschrieben und erforscht wird das Bewusstsein auch dahingehend, nach welchen Kriterien Menschen Entscheidungen treffen. Das Wissen um die eigene Konfliktfähigkeit ist gleichzeitig die Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Kampfkunst. Die eigene Konfliktfähigkeit zu erkennen, entspricht der Frage nach dem Selbst. Hierzu gibt es unzählige Schriften von Philosophen, die alle auf der Suche nach dem Selbst waren. Zum Beispiel Marc Aurel in seiner „Selbstbetrachtung“ und auch Sokrates widmete sein Leben diesem Thema. Viele Kampfkünstler der Vergangenheit waren sich über das Wesen der Kampfkunst bewusst und haben dieses beschrieben. Hierzu einige Beispiele:

Die anderen zu kennen, ist Weisheit, sich selbst zu kennen ist wahre Weisheit. Dem anderen seinen Willen aufzuzwingen ist Stärke, ihn sich selbst aufzuzwingen, ist wahre Stärke.
Laozi, Begründer des Daoismus

Wenn du dich und den Feind kennst, brauchst du denAusgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten. Wenn
du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.
Sunzi

Das Wesentliche in der Kampfkunst besteht darin, sich und den Gegner vollständig zu erkennen.
Miyamoto Musashi

Techniken, Bewegungsmuster und Katas sind nur der
Anfang. Die Wahrheit kann man erst erfassen, wenn man
sich selbst und sein eigenes Potenzial vollständig verstanden hat.
Wissen um die Kampfkunst bedeutet letztlich Wissen um sich selbst.
Bruce Lee

Die Kunst des Geistes kommt vor der Kunst der
Technik. Erkenne erst dich selbst, dann den anderen.
Lerne deinen Geist zu kontrollieren und befreie ihn dann.
Funakoshi Gichin

Auf der Suche nach dem Selbst und der Selbstfindung erkennt man die Verflechtung zwischen der Kampfkunst und zum Beispiel dem Buddhismus. Jeder Mensch hat innere und äußere Konflikte. Zu deren Lösung ist jeder Mensch, bewusst oder unbewusst, auf der Suche nach seinem Selbst. Diese Suche ist im asiatischen Raum offensichtlicher als in Europa. Auf dieser Suche nach dem Selbst kommt auch die Frage nach dem „Sein“. Was ist mein „Sein“ oder wer bin ich? Zuallererst ist jeder Mensch ein Kämpfer. Dies erkennt man wiederum am Konfliktverhalten.

Sobald eine Ordnung verloren geht, befindet sich der Mensch in einem Konflikt und somit in einer Krise. Eine alltägliche Situation als Beispiel: Menschen stehen in einem Supermarkt geordnet an einer Kasse und warten, bis sie abkassiert werden. Dann wird eine weitere Kasse geöffnet. Diejenigen, die sich im Vorfeld auf eine Kasse festgelegt haben, sind ruhig, bleiben stehen, warten den Tumult ab – andere stürmen sofort auf die neue Kasse los. Sie stürmen in den Kampf um die beste Position in der neuen, noch nicht geordneten Schlange. Die innerlich Unentschlossenen wiederum zögern, wissen nicht, was sie tun sollen. Sie stehen wieder am Ende der einen oder anderen Schlange. Und vielleicht wird ihnen ein innerer Konflikt bewusst, indem sie sich vorhalten, dass sie schon wieder am Ende einer Schlange stehen, dass sie sich falsch entschieden haben, worüber sie sich nun ärgern. Die Entschlossenen schielen zu der anderen Kasse hinüber und überprüfen, ob ihre Entscheidung richtig war. Bei dem einen oder anderen kann man erkennen, ob er mit seiner Entscheidung zufrieden ist oder nicht. Dies äußert sich durch einen Anflug von Lächeln oder einen unfreundlichen Blick. Solch ein Konfliktverhalten findet man prinzipiell in jeder sozialen menschlichen Gruppe. Es sind Kämpfe um Positionen.

Zurück zur Suche nach dem menschlichen Selbst – die bekannte Psychologin Vera F. Birkenbihl beschrieb das Selbst einmal so: „Das Selbst ist das kleine ICH, das ein Teil unserer Persönlichkeit ist, den wir als SELBST bezeichnen, in dem unsere Programme, Hoffnungen, Wünsche, Ängste drinstecken – wo alles drinsteckt.“ Diese Programme setzen sich zusammen aus den Bedürfnissen, Gefühlen, den Erfahrungen und Erwartungen, die den Menschen im Laufe seines Lebens begleiten. Die Sozialpsychologie bietet auch hier eine Unterstützung auf der Suche nach dem und zum Erkennen des eigenen Selbst, und zwar durch Selbstreflexion beziehungsweise Selbstanalysen. Diese Selbstreflexionen oder Selbstanalysen bieten eine Orientierung (Ordnung) und Bewusstwerdung (Bewusstsein) über das eigene Selbst und spiegeln den eigenen Standpunkt. Über diese Form der Selbstkontrolle (Selbstreflexion) entsteht das eigene Bewusstsein (Selbstbewusstsein), woraus Selbsterkenntnis resultiert. Über die Selbsterkenntnis erhält man einen Selbstwert. Das Erkennen des eigenen Wertes (Selbstwert) führt wiederum zur Selbstsicherheit. Über die Selbstsicherheit erhält man die Fähigkeit zur Selbstbehauptung. Wer sein Selbst behauptet, gewinnt hieraus die Verantwortung für das eigene Handeln, die Selbstverantwortung. Das ganze System lässt sich als Selbstwirksamkeit bezeichnen. Die Selbstwirksamkeit schließlich ist die Überzeugung, in einer bestimmten Situation eine vorhersehbare adäquate Leistung erbringen zu können. Die Selbstwirksamkeit ist der Gegenspieler der Krise und verhindert die Beeinträchtigung durch Probleme. Sie kann als derjenige Zustand beschrieben werden, der für den Menschen die Voraussetzung ist zum Verteidigen seines Selbst (Selbstverteidigung).

Es ist das Bewusstsein um die eigene Ordnung, das den individuellen Standpunkt festlegt. Menschen, die ihren Standpunkt kennen, erkennen ihre persönlichen Grenzen. Diese Grenzen gilt es zu schützen. Vor derselben Frage stand früher auch ein Burgherr. Wie sollte ein Burgherr seine Grenzen schützen, wenn er seine Grenzen nicht kannte? Wie sollte ein Burgherr seine eigene Burg verteidigen, wenn er weder die Stärken noch die Schwächen seiner Burg kannte? Wie sollte ein Burgherr eine Belagerung überstehen, wenn der Burgherr die Infrastruktur seiner Burg nicht richtig einschätzte? Jeder ist der Herr seiner eigenen Burg und im Konflikt dafür verantwortlich, seine Grenzen, seine Burg zu verteidigen.

Ich bin verpflichtet, meine Rechte wahrzunehmen.
Kampfkunst als Lebensweg

In allen Bereichen des Lebens erwächst aus dem Unwissen Unsicherheit.
Miyamoto Musashi

Nachdem wir nun den Kern beziehungsweise die Lehre der Kampfkunst und ihr Wesen kennengelernt haben, gilt es noch, die Frage nach dem „Mehr“, wie es uns in der Aussage „Kampfkunst ist mehr!“ begegnet, zu beantworten.

Das „Mehr“ steht für den Unterschied zwischen der asiatischen Kampfkunst und der westlichen Vorstellung von Kampfkunst. In Europa wird der Begriff anders interpretiert als in Asien. In den traditionellen Kampfkünsten werden die Ausbilder weltweit „Meister“ genannt. In anderen, modernen Kampfkünsten, wie zum Beispiel Kickboxen oder Boxen, werden die Ausbilder eher als „Trainer“ oder „Coach“ bezeichnet. Die Trainierten wiederum werden generell als Schüler bezeichnet. Die Begriffe „Meister“ und „Schüler“ sind in Anlehnung an die asiatische Tradition gewählt. Die Vermittlung von Kampfkunst außerhalb Asiens konzentriert sich meistens auf die körperliche Ausbildung. Der Kampf steht im Vordergrund und nicht das tiefere Verständnis des Konflikts und die Selbsterkenntnis. Die Kampfkunstvermittler in Asien hingegen sind Meister und Lehrer, keine Trainer oder Coaches. Die Schüler verbeugen sich vor der „Lehre“ ihres Meisters.

Die Lehre über den Konflikt und über die Selbsterkenntnis steht im Vordergrund und wird als entscheidender Weg in der Kampfkunst aufgefasst. Die Lehre der Kampfkunst ist ihrem Wesen nach deshalb ein Teil des sozialen menschlichen Miteinanders. Die Kampfkunst bietet über das Wissen um den Konflikt und um die eigene Konfliktfähigkeit ein sehr großes Potenzial für ein besseres, freundlicheres und sozialeres Miteinander. Dies illustrieren die in der traditionellen Kampfkunst vermittelten Werte: Höflichkeit, Respekt und moralische Grundwerte. Es existiert ein Kodex bezüglich Ehre, Loyalität, Gerechtigkeit, Wahrheitsliebe und Höflichkeit. Solche in der Kampfkunst anerkannten Werte und Verhaltensregeln bestimmen die Rituale, Traditionen und das Bushidō (deutsch: „Weg des Kriegers“): Die Kunst des Friedens und der Liebe. Dies sind für mich die Gründe, weswegen ich mich der Ansicht von Uschi Schlosser-Nathusius und Florian Markowetz anschließe, wonach Kampfkunst Lebenskunst ist.

Lebe ein gutes, ehrenwertes Leben. Wenn Du älter wirst und darauf zurückblickst, kannst Du dich ein zweites Mal daran erfreuen.
Shaolin Mönche

Der Weg ist so unscheinbar und einfach,
aber er ist von höchster und zeitloser Bedeutung.
Yuh Niuy, Legendärer chinesischer Krieger

Der Weg eines Kriegers ist ein Lebensstil.
Niemals nur ein Zeitvertreib, es sei denn, man
will lediglich andere mit seiner Technik beeindrucken.
Miyamoto Musashi

 

Der Geist ist die Wurzel, aus der alles erwächst. Wenn man den Geist versteht, ist alles andere miteingeschlossen.
Bodhidharma, Shaolin Mönch

Buddhismus

Der Buddhismus ist ca. 2500 Jahre alt, sein Begründer Buddha (Siddhartha Gautama) lebte 563 v. Chr. bis 483 v. Chr. Der Buddhismus gilt als eine Lehre, nicht als Religion. Buddhisten glauben nicht an einen Gott, sie glauben, der Mensch habe sein Schicksal selbst in der Hand. Ein Buddhist sucht das Glück in sich selbst. Der Buddhismus bietet ein Kontrastprogramm zum westlichen Konsumdenken und verzichtet auf Dogmen. Die modernen westlichen Wissenschaften und der Buddhismus haben die gemeinsame Sichtweise, dass sich jeder Mensch durch ständiges Bewusstseinstraining persönlich weiterentwickeln kann.

Persönlichkeitsentwicklung dient dem Ziel, seine eigene Haltung zu sich und zum Leben zu verändern. Die Veränderung der eigenen Haltung kann aber auch genauso über Philosophien und Rituale geschehen. Im Wesentlichen geht es um eine Veränderung der persönlichen kurzfristigen Lösungen. Durch diese Form der Persönlichkeitsentwicklung soll verhindert werden, dass der Mensch unter Stress gerät und wieder in die alten kurzfristigen und vielleicht sogar langfristig katastrophalen Lösungen zurückfällt.